Die vorliegende Arbeit schätzt den ökonomischen Wert gesundheitlicher Verbesserung der Vergangenheit seit 1980 in Österreich mithilfe zweier in der ökonomischen Literatur etablierten Ansätze: Humankapital- und Zahlungsbereitschafts-Ansatz. Wir konnten die Forschungsfrage nach einer ökonomischen Evaluierung der Gesundheitsverbes-serungen der vergangenen zwei Jahrzehnte positiv beantworten: Die volks-wirtschaftlichen Effekte bzw. der Nutzen aus gesteigerter Lebensqualität und Lebensquantität überwiegt in beiden angewandten Methoden die im Zeitraum von 1980 bis 2003 getätigten Gesundheitsausgaben.
Der Humankapital-Ansatz misst mögliche gesamtwirtschaftliche Produktions-steigerungen durch Gesundheit. Dadurch berücksichtigt dieser Ansatz lediglich die Erwerbsbevölkerung. Der Zahlungsbereitschafts-Ansatz (willingness to pay, WTP) im Rahmen der Kosten-Nutzen-Analyse beschreitet zur Bewertung von Gesundheit einen anderen Weg. Im Gegensatz zum Humankapital-Ansatz rückt der monetär bewertete, individuelle Nutzen in den Mittelpunkt der Betrachtungsweise. Somit lässt sich der Nutzen aus Gesundheit auch für ältere Bevölkerungsgruppen und nicht nur für die Erwerbsbevölkerung evaluieren. Hier setzt die ethische Kritik am Humankapital-Ansatz an, da dieser Arbeitsunfähige und Pensionisten keinen gesellschaftlichen Wert beimisst.
Zur Umsetzung des WTP-Ansatzes wählten wir das Lebenszyklus-Modell nach Murphy und Topel (2006), das neben Konsum auch Freizeit in die Nutzenfunktion einfließen lässt. Das altersabhängige Nutzenprofil berechneten wir mithilfe der durchschnittlichen Äquivalenzeinkommen und –kon-sumausgaben der österreichischen Haushalte aus dem Jahr 2000. Der eigentliche Vorteil dieses Modells liegt jedoch in der speziellen Implementierung von Lebensqualität. Dadurch lassen sich Mortalität und Morbidität analytisch und empirisch behandeln. Als Annäherung für die Lebensqualität wählten wir die Daten der Gesundheitsbefragung 1999 zur Selbsteinschätzung des Gesundheitszustandes. Die Daten zur Sterblichkeit bezogen wir aus den offiziellen Sterbestatistiken.
Im Rahmen des Humankapital-Ansatzes, welcher allein auf Produktivitätsgewinne einer Gesundheitsverbesserung der Erwerbstätigen abstellt, bedienten wir uns eines Lebenszyklus-Modells nach dem Vorbild des im WTP-Ansatz umgesetzten Modells nach Murphy und Topel (2006). Durch den analogen Aufbau der beiden Modelle sind die Ergebnisse vergleichbar. Beobachtete Gesundheitsverbesserungen der Vergangenheit von 1980 bis 2003 werden anhand der Bezugsgröße des jeweiligen Ansatzes zu 2003 bewertet. Da beide Methoden im Gegensatz zu einperiodigen Modellen über den Lebenszyklus eines Individuums hinweg unter Unsicherheit rechnen, ist die Zielfunktion im Zahlungsbereitschafts-Ansatz der Erwartungsnutzen und im Humankapital-Ansatz die Erwartungsproduktivität – gemessen durch den Einkommensbarwert – über die verbleibende Lebensspanne hinweg. Dabei verbessern wirksame Gesundheitsmaßnahmen die Sterblichkeit und den Gesundheitszustand, was bei den Erwerbstätigen verminderte Krankenstände bewirkt, und erhöhen somit die Zielgrößen, nämlich den Wert eines statistischen Lebens (value of life) bzw. eines repräsentativen Erwerbstätigen (value of labour) im WTP- bzw. Humankapital-Ansatz. Eine wertmäßige Erhöhung dieser monetär bewerteten Zielgrößen durch verbesserte Gesundheit misst damit die individuelle Zahlungsbereitschaft für bzw. die Produktivitätsgewinne aus den realisierten Gesundheitsverbesserungen der letzten zwei Jahrzehnte.
Im Humankapital-Ansatz profitierten am meisten die 20-40-jährigen erwerbstätigen Männer von den gesundheitlichen Verbesserungen seit dem Jahr 1980, nämlich mit rund € 30.000 pro Kopf. Aufgrund der geringeren Erwerbsquote und höheren Anteils von Teilzeit-Beschäftigung beläuft sich der Produktivitätsgewinn bei den Frauen auf nur € 7.000 pro Kopf. Über die altersspezifischen Produktivitätszugewinne der Periode 1980-2003 bei Männern und Frauen summiert, erhielten wir den gesellschaftlichen Produktivitätswert aufgrund verbesserter Gesundheit bewertet zu 2003 mit € 105,5 Mrd. bzw. im Schnitt € 4,6 Mrd. pro Kalenderjahr; das sind 2,03% des BIP 2003.
Während im Humankapital-Ansatz die verbesserte Produktivität der Erwerbstätigen direkt mittels des durchschnittlichen Bruttolohnes bewertet wurde, fungierte das errechnete Altersprofil des Lebenswertes (value of life) zu 2003 als Ausgangspunkt für die WTP-Berechnungen aus verbesserter Gesundheit. Durch die niedrigere Lebenserwartung, z.B. im Jahr 1980, ist das Individuum schlechter gestellt, sodass es den Zustand in 2003 präferiert. Diese altersspezifischen und periodenbezogenen Zahlungsbereitschaften summierten wir über alle Alterskohorten und erhielten den gesellschaftlichen Wert für verbesserte Gesundheit. Zum Beispiel wäre die Bevölkerung 2003 hypothetischerweise bereit für die gesundheitliche Besserstellung der Periode 1980-2003 die gigantische Summe von rund € 830 Mrd. zu zahlen. Dies entspricht pro Jahr im Schnitt € 36,1 Mrd. oder 16% des BIP 2003. Damit übersteigt die Zahlungsbereitschaft die Produktivitätsgewinne um das rund Achtfache.
Folgende Schlussfolgerung lässt sich aus unseren Ergebnissen ziehen. Die volkswirtschaftlichen bzw. ökonomischen Effekte der Verbesserungen in Mortalität und Morbidität der vergangenen zwei Jahrzehnte überwogen bei weitem die Gesundheitsausgaben in diesem Zeitraum. Das alleinige Betrachten von volkswirtschaftlichen Kennzahlen wie Produktivität im Rahmen des Humankapital-Ansatzes unterschätzt den tatsächlichen Effekt von verbesserter Gesundheit bzw. einzelner medizinischer Maßnahmen. Ein besserer Ansatz zur Bewertung von politischen Maßnahmen im Gesundheitswesen ist der in der ökonomischen Evaluierung oft verwendete WTP-Ansatz, der auf die Zahlungsbereitschaft aller Individuen einer Volkswirtschaft, nicht nur der Erwerbsbevölkerung, abzielt. Die errechneten Effekte übersteigen bei weitem die des produktivitätsbasierten Ansatzes. Die Erfassung von Effekten aus gesundheitlichen Verbesserungen durch volkswirtschaftliche Kennzahlen wie Produktion und Wertschöpfung für die Beurteilung von bestimmten Gesundheitsmaßnahmen ist zwar notwendig, kann jedoch die wahre Dimension des volkswirtschaftlichen Nutzens von Gesundheit nicht abbilden.