Das Zeitalter der digitalen Transformation, das von schnellem technologischem Fortschritt, hoher Wettbewerbsdynamik und disruptiven Veränderungen gekennzeichnet ist, stellt Unternehmen vor große Herausforderungen: Sie sind dazu aufgefordert, ihre Strukturen und Prozesse, ihre Strategie und ihr Geschäftsmodell permanent anzupassen und zu erneuern. Ausgangspunkt für die vorliegende Untersuchung ist die Beobachtung, dass etablierte Unternehmen mit den bestehenden Mechanismen der Anpassung und Veränderung an ihre Grenzen gelangen. Kontinuierlicher Wandel erfordert neue Formen des Change-Managements. Aus aktuellen empirischen Erhebungen in Unternehmen lassen sich Hinweise ableiten, dass insbesondere die Organisationen langfristig erfolgreich sind, denen es gelingt, sich kontinuierlich selbst zu erneuern. Die vorliegende Arbeit verfolgt einen interdisziplinären Ansatz und untersucht an der Schnittstelle von Organisationspsychologie und strategischer Managementforschung, über welche Kompetenzen ein Unternehmen verfügen sollte, um eine selbsterneuerungsfähige Organisation zu sein. Die Exploration des Begriffs „Selbsterneuerung“ von Unternehmen und den damit einhergehenden Kompetenzen steht dabei noch weitgehend am Anfang. Bislang liegen nur wenige wissenschaftliche Erkenntnisse zum Konstrukt der Selbsterneuerungs-fähigkeit in Unternehmen vor. Die vorliegende Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, diese Forschungslücke zu schließen und den Ansatz der „kontinuierlichen Selbsterneuerung“ in Unternehmen theoretisch einzuordnen und empirisch zu überprüfen. Dafür greift die Arbeit auf eine vorliegende Konzeptualisierung zur „Selbsterneuerungsfähigkeit“ von Organisationen zurück, die aus acht Dimensionen besteht. Diese beziehen sich unter anderem auf die Fähigkeit einer Organisation, über sich selbst zu reflektieren, Fehler zuzulassen, zu kommunizieren, zu experimentieren oder zu zweifeln. Die Dimensionen werden in der Arbeit aus organisationspsychologischer Sicht eingeordnet und für die Entwicklung des Messmodells mit dem „Dynamic Capabilities“- Ansatz aus der strategischen Managementforschung verknüpft. Für die Überprüfung, ob erneuerungsfähige Unternehmen tatsächlich bei besonderen Anforderungen höhere Kompetenzen aufweisen, wurde eine zweite Säule in das Messmodell integriert: Der digitale Reifegrad eines Unternehmens. Nachdem insbesondere der digitale Wandel Unternehmen vor kontinuierliche und tiefgreifende Herausforderungen stellt, richtet die Arbeit damit den Fokus auf den Zusammenhang der Selbsterneuerungsfähigkeit und der digitalen Reife von Unternehmen. Der Begriff der digitalen Reife bezieht sich dabei auf das psychologische Verständnis von Reife als erlernte Fähigkeit, um in einer bestimmten Weise auf Anforderungen der Umwelt zu reagieren. Im empirischen Teil der Arbeit sollen drei wesentliche Ziele verfolgt werden: In Studie 1 soll das Messmodell validiert werden, dafür werden die relevanten Testgütekriterien bestimmt, sowie eine explorative und konfirmatorische Faktorenanalyse durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass sich ein valides Messmodell mit entsprechend hoher Güte ergeben hat. Damit konnte das Hauptziel der Arbeit erreicht werden, ein valides Testinstrument zu entwickeln, mit dessen Hilfe Organisationen ihre Selbsterneuerungsfähigkeit und digitale Reife künftig testen und bewerten können. In Studie 2 wird das Testinstrument im Rahmen einer quantitativen Erhebung weiter validiert, indem es in Unternehmen unterschiedlicher Größe branchenübergreifend geprüft wird. Studie 2 stellt eine Einheit mit 480 Befragungsteilnehmern dar und unterteilt sich in jeweils zwei Teilstudien: eine als allgemeine Querschnitts-Studie durch alle Wirtschaftsbranchen angelegte Erhebung, die das Messmodell branchenübergreifend verifiziert und wesentliche Zusammenhänge zwischen den Dimensionen der Selbsterneuerung und digitalen Reife prüft. Die zweite Teilstudie bilden Case Studies in vier ausgewählten Unternehmen. Die Case Studies richten den Fokus auf die Prüfung möglicher Unterschiede zwischen den Organisationen und Industriezweigen, anhand deren auch die Unabhängigkeit von Branche und Unternehmensgröße des Messmodells getestet wird. Mit Studie 3 soll das entwickelte Messmodell in einem Extremgruppen-Abgleich verifiziert werden, um das Modell unter besonderen Bedingungen zu testen. Die Extremgruppen bilden dabei der öffentliche Dienst auf der einen Seite und Start-Ups auf der anderen Seite. Diese Studie umfasst 34 Teilnehmer. Aus den empirischen Untersuchungen der Arbeit lassen sich folgende zentralen Ergebnisse zusammenfassen: Je erneuerungsfähiger, desto digital reifer ist ein Unternehmen. Die Erneuerungsfähigkeit und digitale Reife, sowie die damit verbundenen Kompetenzen eines Unternehmens, stehen bis auf eine Ausprägung, in einem positiven, statistisch hochsignifikanten Zusammenhang. Wenn also ein Unternehmen über ausgeprägte Kompetenzen der Selbsterneuerung verfügt, zum Beispiel zu „Bezweifeln“ oder zu „Experimentieren“, dann ist die Organisation auch fortgeschritten bei der strategischen oder organisatorischen Digitalisierung. Auch die Mehrzahl der Dimensionen der Selbsterneuerungsfähigkeit untereinander sind assoziiert. Je höher die Kommunikations-fähigkeit eines Unternehmens ausgereift ist, desto höher ist auch die Fehler & Feedbackkultur oder die Vielfalt. Diese Assoziationen in einer Organisation bestehen sowohl in kleinen als auch großen Unternehmen unterschiedlicher Branchen, wie nachgewiesen werden konnte. Damit kann das entwickelte Testmodell auch unabhängig von Branche und Unternehmensgröße eingesetzt werden. Die Prüfung von entsprechenden Kontrollvariablen ergab, dass mit zunehmender Betriebszugehörigkeit der Mitarbeiter, die Erneuerungsfähigkeit eines Unternehmens sinkt. Das ist auch der Fall, je länger Mitarbeiter in der gleichen Position tätig sind. Weiter zeigte sich, dass statistisch signifikante Unterschiede zwischen Mitarbeitern und Führungskräften bezogen auf ihre Einschätzung der Unternehmenskompetenzen bestehen: Führungskräfte schätzen ihre Organisation insgesamt erneuerungsfähiger ein als ihre Mitarbeiter. In den Case Studies konnten weiter statistisch signifikante Unterschiede zwischen den einzelnen Unternehmen ermittelt werden. Weiter zeigt das Ergebnis einer Cluster-Analyse, dass große Unternehmen erneuerungsfähiger sind als kleine, jedoch nicht unbedingt digital reifer. Größere Unternehmen sind strategisch und organisatorisch nicht automatisch digital fortgeschrittener als kleine Unternehmen. Ausnahme ist die „individuelle“ digitale Reife, die darauf abzielt, wie aktiv Mitarbeiter in die Gestaltung der digitalen Zukunft des Unternehmens eingebunden werden. Bei diesem Punkt erreichen die größeren Unternehmen statistisch signifikant bessere Werte als kleine Organisationen. Die einzelnen Ausprägungen der digitalen Reife stehen untereinander in einem statistisch hochsignifikanten Zusammenhang. So zeigt sich, dass eine höhere strategische digitale Reife mit einer höheren individuellen digitalen Reife assoziiert ist. Je mehr also „Digitalisierung“ in der Strategie einer Organisation verankert ist, umso höher ist die Chance, dass Mitarbeiter die digitale Zukunft des Unternehmens aktiv mitgestalten wollen. Auch der Extrem-Abgleich zwischen Start-Ups und dem öffentlichen Dienst unterstreicht die Befunde, dass Start-Ups nicht nur signifikant bessere Werte bei der Digitalisierung erreichen, sondern auch, dass die Art und Weise, wie Mitarbeiter aktiv in die Digitalisierung eingebunden werden, eine entscheidende Rolle spielen. So ist auch bei den Mitarbeitern im öffentlichen Dienst ein hohes Interesse an der Digitalisierung ersichtlich. Dieses Interesse muss jedoch auch auf entsprechende Strukturen treffen, um sich entwickeln zu können. Generell kann die vorliegende Forschungsarbeit zeigen, dass organisationspsychologisch relevanten Fähigkeiten einer Organisation, wie „Reflexion“, „Lernen“ oder „Zweifeln“ auch eine betriebswirtschaftliche Bedeutung zukommt, indem die Dimensionen eine Schlüsselrolle für die Erneuerungsfähigkeit eines Unternehmens spielen und diese in einem nachweisbaren Zusammenhang zur digitalen Reife einer Organisation stehen.