Produktivität in Deutschland : Messbarkeit und Entwicklung
Martin Ademmer, Frank Bickenbach, Eckhardt Bode, Jens Boysen-Hogrefe, Salomon Fiedler, Klaus-Jürgen Gern, Holger Görg, Dominik Groll, Cecilia Hornok, Nils Jannsen, Stefan Kooths und Christiane Krieger-Boden
Die Produktivitätsentwicklung verweist sowohl auf den Erfolg als auch auf die Voraussetzungen des wirt-schaftlichen Wachstums. Ökonomische Wachstumsprozesse vollziehen sich im Zusammenwirken von technischem Fortschritt, Kapitalintensivierung und der Ausrichtung der Wirtschaftsstruktur auf die Belange der Konsumenten. Die Arbeitsproduktivität ist hierbei das zentrale Erfolgsmaß, weil es das Produktionsergebnis zu demjenigen Faktor in Bezug setzt, der zugleich als Einkommensbezieher mit seinen Konsumzielen den finalen Zweck der Produktion begründet. Die Arbeitsproduktivität hängt neben der Kapitalausstattung von der Effizienz ab, mit der die verschiedenen Produktionsfaktoren kombiniert werden. Eine Zunahme dieser als Totale Faktorproduktivität (TFP) bezeichneten Effizienz ermöglicht Produktionszuwächse ohne zusätzlichen Faktoreinsatz. Arbeitsproduktivität und Totale Faktorproduktivität sind daher zentrale Untersuchungsgrößen in diesem Gutachten. Produktivitätsfortschritte treten typischerweise nicht in allen Wirtschaftsbereichen gleichmäßig auf, sondern zeigen sektorale Schwerpunkte (Produktivitätskerne). Die gesamtwirtschaftliche Produktivi-tätsentwicklung resultiert als gewogener Durchschnitt aus den sektoralen Produktivitätsfortschritten. Dies motiviert neben der gesamtwirtschaftlichen Betrachtung auch eine nach Wirtschaftsbereichen differenzierte Produktivitätsanalyse in diesem Gutachten. Da sich die in der Wirtschaftsstruktur abbil-denden Spezialisierungsmuster in einer marktwirtschaftlichen Ordnung nicht losgelöst von den Kon-sumenteninteressen ausprägen, bestimmen diese über Kompositionseffekte die gesamtwirtschaftlich beobachtete Produktivitätsentwicklung mit. Zudem kommt es bei sektoral divergierenden Produktivi-tätsentwicklungen zu Wechselwirkungen, die über Relativpreisveränderungen (sektorale Terms of Trade) die Entwicklung der Wertproduktivität zwischen den Sektoren tendenziell angleichen. Hierin kommt zum Ausdruck, dass auch Bereiche mit für sich genommen geringeren Volumenproduktivi-tätsfortschritten (Produktivitätsbrachen) indirekt über Opportunitätskosteneffekte zum gesamtwirt-schaftlichen Produktivitätsfortschritt beitragen. Bestandsaufnahme: Die Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität in Deutschland ist in der Tendenz in den letzten 25 Jahren gesunken, zunächst allerdings nur leicht; eine ausgeprägte Produktivitätsschwäche ist erst in der jüngs-ten Zeit zu beobachten. Seit der Wiedervereinigung haben sich die amtlich ausgewiesenen Produktivi-tätszuwächse in Deutschland im Trend verringert. Wurden Anfang der 1990er Jahre noch Zuwächse bei der Arbeitsproduktivität von deutlich mehr als zwei Prozent pro Jahr verzeichnet, so lagen die Raten in den vergangenen vier Jahren bei einem Viertel davon. Eine Abschwächung der Produktivi-tätsentwicklung verzeichneten auch andere Industrieländer, wenngleich dieses Phänomen zum Teil – insbesondere in den Vereinigten Staaten – erst etwa ab Mitte der 2000er Jahre zu beobachten war. Die Wachstumszerlegung der Arbeitsproduktivität in die Komponenten TFP und Kapitalintensität zeigt, dass im Vorkrisenzeitraum in Deutschland der Beitrag der Kapitalintensität rückläufig war und sich im internationalen Vergleich besonders schwach entwickelte. Der Beitrag der TFP war hingegen relativ stabil. Betrachtet man nur den Marktsektor, der die öffentliche Dienstleistungen und das Grundstücks- und Wohnungswesen ausschließt, so nahm dort der TFP-Beitrag in diesem Zeitraum sogar zu. Die gesamtwirtschaftlichen Produktivitätszuwächse waren in Deutschland stärker als in anderen hoch-entwickelten Ländern auf nur drei Sektoren konzentriert. Die positiven Beiträge zur gesamtwirtschaftli-chen Produktivität kommen in Deutschland ganz überwiegend aus den Sektoren „Produzierendes Ge-werbe“, „Handel, Verkehr und Gastgewerbe“ (HVG) sowie „Information und Kommunikation“. Andere Sektoren sind entweder zu klein, um die gesamtwirtschaftliche Produktivität nennenswert zu beein-flussen (Landwirtschaft) oder weisen eine stagnierende oder gar rückläufige Produktivität auf (Bau-wirtschaft, Finanz- und Versicherungsdienstleister, Unternehmensdienstleister). Die Produktivi-tätsschwäche in den vergangenen Jahren ist im Wesentlichen auf eine Verlangsamung des Wachstums im Produzierenden Gewerbe und im HVG-Sektor zurückführen. Die im internationalen Vergleich sehr schwache Entwicklung der Produktivität bei den Unternehmensdienstleistungen hat sich hingegen zuletzt eher verbessert. Messproblematik: Statistische Unsicherheiten resultieren vor allem aus der unpräzisen Messbarkeit der Wertschöpfung sowie der tatsächlich eingesetzten Mengen und Qualitäten von Kapital und Arbeit. Die Messunsicher-heiten aufgrund konzeptioneller und methodischer Probleme sind beträchtlich. Sie erschweren die Diagnose und insbesondere internationale Vergleiche. Für bedeutende Teile des Dienstleistungs-gewerbes, darunter die öffentliche Verwaltung, die Finanz- und Versicherungsdienstleister sowie die Wohnungs- und Grundstückswirtschaft, stellen die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) bislang keine verlässlichen Produktivitätskennziffern bereit. Die nominale Wertschöpfung beruht in diesen Bereichen in erheblichem Umfang auf unterstellten Transaktionen (z.B. fiktive Mieten) und auch die Zerlegung in Volumen- und Preiskomponente kann konzeptionell oft kaum befriedigen. Nicht selten unterliegen die impliziten Deflatoren – etwa die für den Finanzsektor – extremen Schwankun-gen und signalisieren damit, dass die volumenbezogene Fortschreibung der Wertschöpfung unplausi-bel ist. Die Produktivitätsanalyse ist für modellbedingte Artefakte besonders anfällig, da sie die Out-put- und Inputseite in Beziehung setzt und damit bei nicht beobachtbaren Markttransaktionen oder -preisen auf einer der beiden Seiten unmittelbar betroffen ist und lediglich die expliziten oder implizi-ten Annahmen zur Überbrückung der Beobachtungslücken in den Daten als Ergebnis reproduziert. Qualitätsfortschritte, insbesondere in den Informations- und Kommunikationstechnologien, stellen die Preisbereinigung vor erhebliche Schwierigkeiten. Die mangelnde Volumenerfassung bei querfinanzierten digitalen Gütern hat die Produktivitätsmessung aber in Deutschland bislang nicht nennenswert verzerrt. Zum einen waren insbesondere Güter der Informations- und Kommunikationstechnologie in den ver-gangenen Dekaden besonders raschen, aber nur schwer quantifizierbaren Qualitätsverbesserungen unterworfen, die mit den herkömmlichen Verfahren der Preisbereinigung zum Teil deutlich unter-schätzt wurden. Statistische Ämter, darunter auch das Statistische Bundesamt, haben zwar zuneh-mend auf hedonische Verfahren zurückgegriffen, um die Preisentwicklungen für diese Güter besser abschätzen zu können. Aufgrund des hohen Aufwands kommt dieses Verfahren jedoch nur bei sehr wenigen Gütern zum Einsatz und zudem in den einzelnen Ländern in unterschiedlichem Maße, was internationale Vergleiche erschwert. Zum anderen treten durch das Internet vermehrt Querfinanzie-rungsmodelle auf, etwa bei bestimmten digitalen Diensten wie Suchmaschinen, Media-Portalen oder elektronischen sozialen Netzwerken. Den Endverbrauchern werden diese Dienste zwar unentgeltlich zur Verfügung gestellt, sie finanzieren diese jedoch indirekt über höhere Preise für diejenigen Güter, die im Zusammenhang mit den Diensten beworben werden. Die Wertschöpfung der unentgeltlichen Internetdienste schlägt sich in den VGR lediglich in Preissteigerungen für die beworbenen Güter nie-der und wird wegdeflationiert. Quantitativ fallen die Online-Werbeumsätze in Deutschland bislang allerdings mit nur 2 Promille des nominalen Bruttoinlandsprodukts praktisch nicht ins Gewicht. Die Humankapitalausstattung der Erwerbstätigen, der zentrale Indikator für die Qualität und Leistungs-fähigkeit des Faktors Arbeit, wird nach wie vor ungenügend erfasst. Verfügbare Indikatoren orientieren sich ganz überwiegend an formalen Bildungsabschlüssen statt an den eingesetzten Fähigkeiten. Sie vernachlässigen Soft Skills ebenso wie erforderliche Abschreibungen des Humankapitals. Ferner unter-scheiden sich die verfügbaren Datensätze nicht nur im Niveau des Humankapitalbestands, sondern auch in dessen zeitlicher Entwicklung erheblich. So werden etwa deutsche Fachhochschulabschlüsse zuweilen als mittlere, amerikanische Collegediplome aber als hohe Qualifikation interpretiert. Diese Bewertungsunterschiede können internationale Produktivitätsvergleiche erheblich verzerren. Die Messung des Sachkapitaleinsatzes ist ungenau, und die Bestandsrechnung sollte um eine Nutzungs-rechnung (Kapitaldienste) ergänzt werden. Der Produktionsfaktor Sachkapital wird in Deutschland nur als Kapitalbestandsrechnung ausgewiesen, die somit prinzipiell nutzbare Kapazitäten anzeigt. Kapital-dienstrechnungen, die den Leistungsstrom der Kapitalgüter in Gestalt impliziter Mieten (Kapitalnut-zungskosten) widerspiegeln, wären aus theoretischer Sicht vorzuziehen, weil sie den tatsächlichen Faktoreinsatz produktionsadäquat periodisieren. So geht von einem Gebäude nur einen deutlich ge-ringeren Teil seiner Substanz in einem Jahr in das Produktionsergebnis ein als von einem Computer. Daher ist die Altersstruktur des Kapitalbestandes relevant, die allerdings in Deutschland seit mehreren Jahren nicht mehr nachgewiesen wird. Mangels Originärdaten zur Kapitalnutzung erfordern alle Kapi-talrechnungen weitreichende Annahmen, etwa über die Nutzungsdauer und die zeitlichen Nutzungs-profile der Kapitalgüter. Diese Annahmen können die Ergebnisse ökonomischer Analysen erheblich beeinflussen, wenn nicht sogar dominieren. Originäre Kapitalnutzungserhebungen, die auch temporär (z.B. in Rezessionen) unterausgelastete Kapazitäten und obsolete Anlagen adäquat erfassen, wären wünschenswert, sind bislang allerdings nicht in Sicht. Bei der sektoralen Zuordnung können die Arbeitnehmerüberlassung und das Leasing zu Verzerrungen von sektoralen Produktivitätskennziffern führen. Bei diesen Aktivitäten werden die Produktionsfakto-ren einschließlich ihrer Wertschöpfung in den VGR den Unternehmensdienstleistungen zugerechnet, obwohl sie zumeist in anderen Sektoren arbeiten. Konjunkturell oder strukturell bedingte Veränderungen in der Inanspruchnahme dieser Dienste kann die Entwicklung der Arbeitsproduktivität insbe-sondere in den Unternehmensdienstleistungen spürbar beeinflussen. Trotz aller Unsicherheiten im Zusammenhang mit Konzeption und Methodik der Datenerfassung dürfte die Diagnose einer tendenziellen Verlangsamung der Arbeitsproduktivität in Deutschland seit Anfang der 1990er Jahre Bestand haben. Häufig führen die methodischen Probleme vor allem zu einer Unsicher-heit über das Niveau der Produktivität und beeinträchtigen weniger die Abschätzung ihrer Entwicklung über die Zeit. So haben Revisionen statistischer Daten im Zuge von laufenden oder Generalrevisionen im Einzelnen in der Vergangenheit zwar mitunter die beobachteten Produktivitätskennziffern erheb-lich beeinflusst, das Bild einer trendmäßigen Abnahme der Arbeitsproduktivität aber nicht grundle-gend verändert. Die Probleme bei der Qualitätsbereinigung und unterschiedliche Vorgehensweisen zu ihrer Linderung erschweren zwar den internationalen Vergleich, ihre Auswirkungen sind quantitativ aber wohl nicht so bedeutsam, dass sie einen bedeutenden Beitrag zur Erklärung des Musters der Produktivitätsentwicklung leisten könnten. Ökonomische Faktoren: Der im Trend rückläufigen Arbeitsproduktivität in Deutschland liegt ein komplexes Ursachenbündel zu-grunde; der Einfluss einzelner Faktoren ist kaum exakt zu separieren, jedoch lässt sich ihre Bedeutung grob abschätzen. Maßgeblich für die Produktivitätsentwicklung in Deutschland waren nach den in die-ser Studie vorgenommenen Schätzungen und Modellrechnungen vor allem fünf Faktoren: die deut-sche Wiedervereinigung, ein vergleichsweise schwacher Impuls durch die Digitalisierung, die demo-grafische Entwicklung, der sektorale Strukturwandel und das deutsche „Arbeitsmarktwunder“. Aller-dings berücksichtigt die Studie nicht alle Wechselwirkungen zwischen diesen Faktoren, sondern kann sie nur separat und unabhängig voneinander analysieren. Die Normalisierung nach dem Boom im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung dämpfte das Produktivitätswachstum in den Jahren nach 1995. Die deutsche Wiedervereinigung hatte das Pro-duktivitätswachstum Anfang der 1990er Jahre über einige Jahre hinweg beflügelt (Aufholwachstum). Hierzu trugen insbesondere auch Entwicklungen im Immobiliensektor und bei den staatlichen Dienst-leistungen bei. Mit dem Auslaufen des „Aufbaus Ost“ ging das Produktivitätswachstum auf ein Niveau zurück, wie es auch in anderen Industrieländern zu beobachten war. Die Digitalisierung stimulierte das Produktivitätswachstum in Deutschland merklich schwächer als etwa in den Vereinigten Staaten oder dem Vereinigten Königreich. Zwar wurde das Produktivitätswachstum im Zeitraum zwischen 1995 und 2005 auch in Deutschland maßgeblich von den Wirtschaftszweigen getrieben, die digitale Güter herstellen oder intensiv nutzen, doch hat die deutsche Wirtschaft weni-ger intensiv in moderne Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) investiert als beispiels-weise die amerikanische. Sie hat auch die Produktivitätspotenziale, die diese Technologien bieten, weniger konsequent ausgeschöpft. Entsprechend hat nicht nur die Kapitalintensität, sondern auch die Totale Faktorproduktivität vergleichsweise wenig zum Wachstum der Arbeitsproduktivität beigetra-gen. Ähnliches gilt für die Wirtschaft in anderen kontinentaleuropäischen Ländern. Als Gründe für die geringere Digitalisierung der Wirtschaft in Kontinentaleuropa werden – neben messbedingten Unter-schieden bei der Deflationierung – vor allem die vergleichsweise starke Regulierung von Güter- und Arbeitsmärkten angesehen, die den Wettbewerbs- und Innovationsdruck auf Unternehmen verringert. Auch die größere Bedeutung kleiner und mittlerer Unternehmen, die diese neuen Technologien weni-ger effektiv einsetzen können als Großunternehmen, dürfte bremsend gewirkt haben. Der sektorale Strukturwandel von der Landwirtschaft und dem Produzierenden Gewerbe hin zum Dienstleistungssektor (Tertiarisierung) hat das Produktivitätswachstum in Deutschland zwar insgesamt erhöht, die positive Wirkung hat aber im Zeitablauf tendenziell abgenommen. Ein wesentlicher Grund hierfür ist, dass die Arbeitsproduktivität in den Unternehmensdienstleistungen, einem der „Gewinner“ des Strukturwandels, im Zeitablauf hinter der in vielen anderen Sektoren zurückgefallen ist. Noch in den 1990er Jahren brachten die strukturellen Verlagerungen hin zu diesem Sektor, die seinerzeit vor allem zu Lasten der Landwirtschaft und des Baugewerbes gingen, Produktivitätszuwächse mit sich. In den 2000er Jahren expandierten die Unternehmensdienstleistungen weiter, ihr Produktivitätsvor-sprung gegenüber anderen Sektoren wandelte sich aber in einen Produktivitätsrückstand, so dass die Expansion des Sektors nunmehr produktivitätssenkend wirkte. Die Expansion des überdurchschnittlich produktiven Produzierenden Gewerbes nach 2010 hat den Produktivitätseffekt des sektoralen Struk-turwandels in Deutschland zuletzt jedoch zumindest vorübergehend wieder leicht erhöht. Veränderungen in der Altersstruktur der Erwerbsbevölkerung wirkten auf eine Verlangsamung des Pro-duktivitätswachstums hin. Empirische Untersuchungen zeigen, dass die individuelle Arbeitsproduktivi-tät mit zunehmendem Alter zunächst steigt und dann sinkt. Demnach haben Veränderungen der Al-tersstruktur Einfluss auf das Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Produktivität. Während das Pro-duktivitätswachstum in Deutschland durch die demografische Entwicklung in den 1990er Jahren noch leicht gestützt wurde, wirkte sie in den 2000er Jahren tendenziell dämpfend. In jüngster Zeit sind diese dämpfenden Effekte allerdings wieder geringer geworden. Das deutsche „Arbeitsmarktwunder“ erklärt einen großen Teil des rückläufigen Produktivitätswachstums in Deutschland seit Mitte der 2000er Jahre. Die deutsche Wirtschaft integrierte seit Mitte der 2000er Jahre eine große Zahl von Arbeitskräften mit eher unterdurchschnittlicher Humankapitalausstattung in den deutschen Arbeitsmarkt. Drei Faktoren sind hierfür von besonderer Bedeutung: (1) Die ausge-prägte Lohnmoderation, die seit Anfang/Mitte der 2000er Jahre bis in die Gegenwart hinein der Ar-beitsnachfrage stetig Impulse gibt, (2) die Hartz-Reformen Mitte der 2000er Jahre, durch die insbe-sondere die Beschäftigungsanreize für gering qualifizierte Arbeitskräfte erhöht wurden, und (3) die Zuwanderung von Arbeitskräften vor allem aus Mittel- und Osteuropa nach 2011. Die Arbeitsprodukti-vität wird durch diese Faktoren zum einen dadurch gedämpft, dass die Integration von Arbeitskräften mit eher unterdurchschnittlicher Humankapitalausstattung den gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt verringert (Kompositionseffekt). Zum anderen verringert sich die Sachkapitalausstattung je Erwerbs-tätigen vorübergehend, da der Sachkapitalstock allenfalls mit einiger zeitlicher Verzögerung an den steigenden Beschäftigungsstand angepasst werden kann. Modellrechnungen zufolge birgt die Lohn-moderation das Potenzial, die Verlangsamung des Produktivitätswachstums in Deutschland seit Mitte der 2000er Jahre zu einem großen Teil zu erklären. Andere Faktoren, die in der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion zuweilen für die abneh-mende Dynamik der Arbeitsproduktivität in Deutschland verantwortlich gemacht werden, hatten dage-gen einen nur sehr begrenzten Einfluss. So findet die vorliegende Studie keine Anhaltspunkte dafür, dass das Auslaufen der Ära zunehmenden Offshorings von Vorleistungen durch die deutsche Wirt-schaft gegen Ende der 2000er Jahre das Produktivitätswachstum in Deutschland nennenswert beein-flusst hat. Auch zeigt sich keine Evidenz dafür, dass Veränderungen in der Humankapitalausstattung bedeutsam waren. Die Zuwächse im Humankapital der Arbeitskräfte in den 1990er und frühen 2000er Jahren haben dem Trend rückläufigen Produktivitätswachstums in Deutschland nichts entgegensetzen können. Sie waren zu schwach – auch im internationalen Vergleich. Schließlich haben die Bankenkrise, die ausgeprägte Kreditexpansion sowie die niedrigen Realzinsen im Gefolge der Finanz-, Wirtschafts- und Eurokrise zwar in vielen anderen Ländern vorübergehend zu einer Fehlallokation von Produkti-onsfaktoren geführt, notwendige Anpassungen verzögert und damit letztlich das Produktivitätswachs-tum gedämpft. In Deutschland haben sie die Produktivitätsentwicklung aber bisher wohl kaum beein-trächtigt, stellen aber ein ernstzunehmendes Risiko für die weitere Entwicklung dar. Die Auswertung von Unternehmensdaten ist ein vielversprechender Ansatz für weitere Forschung. Ana-lysen mit Mikrodaten sind ein wichtiges, komplementäres Instrument, um gesamtwirtschaftliche und sektorale Produktivitätsentwicklungen tiefergehend zu verstehen. Insbesondere kann mit Hilfe von Firmendaten zusätzlich die Heterogenität zwischen Firmen analysiert werden. Zum einen können die Beiträge von neu in den Markt eintretenden, aus dem Markt ausscheidenden und kontinuierlich ope-rierenden Unternehmen zum Produktivitätswachstum unterschieden werden. Solche Analysen dürften unter anderem auch ein neues Licht auf den Zusammenhang zwischen Produktivitätswachstum und Wettbewerbspolitik werfen. Zum anderen kann die relative Bedeutung verschiedener Determinanten der Produktivitätsentwicklung in Unternehmen eingehender analysiert werden, darunter die Bedeu-tung von Managementpraktiken in den Unternehmen. Forschungsbedarf ergibt sich auch aus den in der Studie identifizierten Schwächen bei der Erfassung und Aufbereitung makroökonomischer Daten. Der Fokus sollte dabei auf der Erfassung der Wertschöpfung des Dienstleistungsgewerbes sowie auf einer adäquaten Messung von Sach- und Humankapital liegen. Fazit: Der im Trend seit der Wiedervereinigung rückläufige Produktivitätsfortschritt lässt sich nicht auf eine isolierte Ursache zurückführen, sondern resultiert aus dem Zusammenspiel multipler und im Zeitverlauf unterschiedlich bedeutsamer Faktoren. Trotz mitunter erheblicher Messprobleme hat der Befund als solcher aber Bestand und ist nicht nur das Ergebnis eines statistischen Artefakts. Gleichwohl besteht kein Anlass zu einem säkularen Produktivitätspessimismus. In Deutschland wurde die Produktivitäts-entwicklung durch eine Reihe von Faktoren getrieben, die temporären Charakter haben und auch nicht notwendigerweise negativ zu bewerten sind. Die Messunsicherheiten aufgrund konzeptioneller und methodischer Probleme sind beträchtlich. Sie erschweren die Diagnose und insbesondere inter-nationale Vergleiche. Bei aller aus diesen Gründen gebotenen Vorsicht bei der Bewertung der statisti-schen Evidenz wird in dieser Untersuchung der Rückgang im Trendwachstum der Arbeitsproduktivität in Deutschland vor allem auf fünf Einzelentwicklungen zurückgeführt: die deutsche Wiedervereini-gung, ein im internationalen Vergleich schwaches Ausmaß der Digitalisierung, die demografische Ent-wicklung, den sektoralen Strukturwandel und das deutsche „Arbeitsmarktwunder“. Andere mögliche Ursachen wie die relativ schwache Zunahme des Humankapitalbestandes, Tendenzen im Zusammen-hang mit dem Outsourcing von wirtschaftlicher Aktivität oder Auswirkungen der Finanzkrise leisten hingegen keinen nennenswerten Erklärungsbeitrag. Die Bestimmungsgründe sind in ihrer Auswirkung auf das Produktivitätswachstum zum Teil temporärer Natur (Aufholeffekte vor allem in den ersten fünf Jahren nach der Wiedervereinigung oder die Veränderungen in der Zusammensetzung der Erwerbs-bevölkerung, die auf den Produktivitätsfortschritt in den 1990er Jahren fördernd, in den frühen 2000er Jahren hingegen dämpfend wirkten), so dass sie einen säkularen Wachstumspessimismus nicht begründen können. Besonders groß ist den Schätzungen und Modellrechnungen zufolge der Beitrag der nach der Jahrtausendwende einsetzenden Lohnzurückhaltung und der dadurch ermöglichten ho-hen Beschäftigungsdynamik, die – gemessen am Arbeitsvolumen – seit 2005 einsetzte und bis heute anhält. Im Zuge dieser Entwicklung wurde zwar die durchschnittliche Produktivität gedämpft, gleich-zeitig ist aber die Arbeitslosigkeit deutlich gesunken. Gerade die fünfjährige Schwächephase am aktu-ellen Rand geht maßgeblich auf diesen Effekt zurück. Dies spiegelt auch die Potenzialproduktivität wider, die gegenüber reinen Entlassungsproduktivitätseffekten immun ist und für den aktuellen Rand keine auffällige Schwäche ausweist. Auch zeigt sich an der Wertproduktivität, dass mit Blick auf das finale Ziel des Wirtschaftens – der Konsumgüterversorgung – die Produktivitätsentwicklung im verein-ten Deutschland eher durch einen U-förmigen Verlauf als durch einen Abwärtstrend gekennzeichnet ist. In sektoraler Betrachtung bestätigt sich durch dieses Maß auch die These, dass Produktivitäts-brachen über intersektorale Terms of Trade am Fortschritt der Produktivitätskerne teilhaben.
Year of publication: |
2017
|
---|---|
Authors: | Ademmer, Martin ; Bickenbach, Frank ; Bode, Eckhardt ; Boysen-Hogrefe, Jens ; Fiedler, Salomon ; Gern, Klaus-Jürgen ; Görg, Holger ; Groll, Dominik ; Hornok, Cecilia ; Jannsen, Nils ; Kooths, Stefan ; Krieger-Boden, Christiane |
Publisher: |
Kiel : Institut für Weltwirtschaft |
Saved in:
freely available
Extent: | 1 Online-Ressource (circa 300 Seiten) Illustrationen |
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Series: | Kieler Beiträge zur Wirtschaftspolitik. - Kiel : IfW, ISSN 2567-6474, ZDB-ID 2433297-5. - Vol. Nr. 12 (November 2017) |
Type of publication: | Book / Working Paper |
Type of publication (narrower categories): | Graue Literatur ; Non-commercial literature ; Arbeitspapier ; Working Paper |
Language: | German |
Notes: | Zusammenfassung in englischer Sprache |
Other identifiers: | hdl:10419/172261 [Handle] |
Source: | ECONIS - Online Catalogue of the ZBW |
Persistent link: https://www.econbiz.de/10011756418
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